Das Hebammen-Dilemma
5. November 2025

Zuerst einmal: Wer glaubt, Deutschland habe ein Problem damit, dass sich niemand mehr zur Hebamme ausbilden lassen möchte, liegt falsch. Das Gegenteil ist der Fall: Die Studienplätze sind begehrt wie nie. Die Akademisierung hat dem Beruf sogar endlich den fachlichen Respekt verschafft, den er immer verdient hatte. Und doch stehen wir mitten in einem Hebammenmangel. Das liegt nicht daran, dass es keine qualifizierten Hebammen gäbe – sondern daran, dass so viele den Beruf erschöpft und frustriert wieder verlassen. Oder gar nicht erst antreten.
Seit dem 1. November gilt ein neuer Hebammenhilfevertrag, der offiziell eine bessere Vergütung ermöglichen soll. Mehr Wertschätzung. Weniger Belastung. Klingt nach Fortschritt. Tatsächlich klingt es vor allem nach: gut gemeint, aber kaum durchdacht. Freiberufliche Hebammen, insbesondere Beleghebammen, schlagen Alarm. Nicht, weil sie keine besseren Bedingungen wollen – sondern weil sich hinter vermeintlichen Verbesserungen teils gravierende Verschlechterungen verstecken. Und weil die neuen Regelungen an der Lebensrealität vorbei entschieden wurden. Denn Hebammen begleiten Frauen nicht nur während der Geburt, sondern über Monate hinweg – medizinisch, körperlich und emotional. Oder wie es Hebamme Jamila Armand-Delille in unserem FRAUEN-100 Podcast „You can sit with us" sagt: „Hebammen sind nicht nur Geburtshelferinnen. Wir begleiten Frauen über Monate – in ihren Fragen, Ängsten, in der großen Veränderung, Mutter zu werden. Wir begleiten Familien beim Reinwachsen in ihre neue Rolle. Ich sage immer: Die Mutter ist genauso alt wie ihr Kind. Auch sie muss erst geboren werden.“
Was der neue Vertrag wirklich regelt
Der Hebammenhilfevertrag legt fest, wie freiberufliche Hebammen mit den gesetzlichen Krankenkassen abrechnen dürfen. Verhandelt wird zwischen Krankenkassen, Hebammenverbänden und Geburtshaus-Netzwerken. Da man sich nicht einigen konnte, entschied am Ende eine Schiedsstelle. Auf dem Papier sieht das Ergebnis glänzend aus: höhere Stundensätze, bessere Vergütung für Geburten, Stärkung der 1-zu-1-Betreuung. In der Praxis jedoch gilt: Wer so arbeitet, wie es die Realität erfordert, verliert.
Die 1-zu-1-Betreuung – schönes Ideal, falsche Wirklichkeit
Die neue Vergütung funktioniert nämlich nur, wenn wirklich ausschließlich eine Gebärende betreut wird. Das wäre tatsächlich der Idealzustand – aber in deutschen Kreißsälen betreuen Hebammen oft zwei bis vier Frauen gleichzeitig. Nicht, weil sie das möchten. Sondern weil Personal, Räume und Strukturen fehlen. „Die Idee klingt gut – aber die Realität ist eine andere. Eine 1:1-Betreuung kann ich nicht garantieren, wenn der Kreißsaal voll ist“, so die Expertin Jamila.
Ab jetzt wird jedoch nur die erste Gebärende vollständig vergütet. Die nächsten schlechter. Und ab der vierten gar nicht mehr. Wer also versucht, den realen Alltag zu stemmen, macht Minus.
Ein Mikrotakt im Wochenbett, der niemandem dient
Auch in der ambulanten Versorgung wird es kompliziert. Künftig wird im 5-Minuten-Takt abgerechnet. Als wäre Wochenbettbetreuung eine Stoppuhr-Disziplin. Dabei braucht Vertrauen Zeit. Eine Mutter, die nicht weiß, ob das Stillen funktioniert, braucht Zeit. Eine Familie, die an einem neuen Leben wächst, braucht Zeit. Dieser Zeit nun ein starres Abrechnungsraster aufzuzwingen, macht Betreuung nicht besser, sondern kleiner, kürzer, härter. Und digitale Beratungen – kurze Einschätzungen, ob ein Notfall vorliegt – sind unter Umständen gar nicht mehr abrechenbar. „Das vielleicht größte Problem sind die digitalen Beratungen. Eine Mutter schickt mir ein Foto, fragt: Muss ich ins Krankenhaus? Und diese kurze, wichtige Einschätzung kann ich nicht mehr abrechnen. Das ist absurd“, weiß Armand-Delille.
Auch Geburtsvorbereitungs- und Rückbildungskurse geraten unter Druck: Fehlt jemand, darf nicht mehr abgerechnet werden. Die Hebamme aber zahlt weiter Raum, Zeit und Organisation. Das ist nicht Betreuung – das ist betriebswirtschaftliche Einbahnstraße. Und: „Wenn Rückbildungskurse wegfallen oder privat bezahlt werden müssen, trifft das vor allem die Frauen, die es sich nicht leisten können. Und am Ende wird es das Gesundheitssystem viel teurer“, so die Hebamme.
Eine Arbeit, die das Leben formt – und das eigene mitnimmt
Viele Hebammen arbeiten in ständiger Bereitschaft. Geburt richtet sich nicht nach Tageszeit oder Terminkalender – und für viele freiberufliche Hebammen bedeutet das: Sie sind ständig erreichbar, jederzeit bereit zu fahren, wenn ein Kind entscheidet, dass jetzt der Moment ist. Eine Hebamme beschreibt es so: „Wie ich arbeite, machen nur wenige Hebammen: Ich bin 24/7 erreichbar. Wenn das Baby kommt, gehe ich – egal ob es Tag ist oder Nacht. Das ist eine enorme Verantwortung.“ Dieser Beruf verlangt deshalb nicht nur Fachkompetenz, sondern auch eine hohe Bereitschaft, das eigene Leben flexibel zu halten. Freizeit muss oft spontan weichen, soziale Aktivitäten werden zur Verhandlungsfrage. Oder, wie eine Hebamme es ausdrückt: „Es ist ein ständiges Abwägen zwischen Beruf und Privatleben. Wenn ich eingeladen bin, ins Theater zu gehen, muss ich überlegen: Organisiere ich eine Vertretung oder sage ich ab? Das eigene Leben ordnet sich immer unter der Geburt einer anderen Frau ein.“ Der Beruf schenkt Nähe, Vertrauen und existenzielle Momente – aber er fordert auch, dass Hebammen ihr Leben um die Geburten anderer herum organisieren.
Drohende Konsequenzen: Weniger Hebammen, längere Wege, schlechtere Versorgung
Viele Hebammen denken jetzt darüber nach aufzuhören, manche haben bereits aufgegeben. Kreißsäle schließen. Wege zur nächsten Geburtshilfe werden länger. Deutschland liegt bei Totgeburten im internationalen Vergleich im unteren Mittelfeld, bei Frühgeburten weit hinten. Die WHO, der Koalitionsvertrag und die Wissenschaft sind sich seit Jahren einig: Eine gute Geburtshilfe braucht eine kontinuierliche Betreuung, idealerweise 1-zu-1. Aber genau das ermöglichen wir systemisch nicht.
Die Lösung liegt auf dem Tisch – seit Jahren
Es gibt längst Konzepte, Studien, Modelle: hebammengeleitete Kreißsäle, bedarfsgerechte Finanzierung, klare Personalstandards. Und doch wird das Thema politisch behandelt wie ein Nischenthema „für Frauen“. Dabei geht es hier nicht um ein „Soft-Thema“, sondern um die Grundlage von Gesundheit, Familienleben und gesellschaftlichem Wohlbefinden. Der neue Vertrag zeigt, wie gefährlich Reformen sind, die ohne Blick auf den Berufsalltag entstehen. Hebammen halten dieses System mit ihrer eigenen Kraft am Laufen – nicht, weil es stabil ist, sondern weil sie es stabil halten. Das darf nicht länger Grundlage unseres Gesundheitssystems sein. Hebammen sind das Fundament jeder Geburtshilfe. Wer das nicht versteht, verkennt nicht nur einen Beruf – sondern den Anfang des Lebens.
Ganze FRAUEN100-Podcast-Folge mit Hebamme Jamila Armand-Delille hier hören:
Text von Rebecca Stringa.





