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FRAUEN100 X ECONOMY 2024

2. Dezember 2024

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Demokratische Einigkeit


Wenn sich Politikerinnen und Politiker der großen demokratischen Parteien weniger als drei Monate vor der Wahl treffen, dann ist das eine schwierige Mischung für Konsens. Die Diskussionen beim FRAUEN100 X Economy Dinner am Donnerstagabend im Restaurant 1907 beweisen das Gegenteil. Denn beim Grundproblem herrscht Einigkeit: Deutschland ist unter den Schlusslichtern, was die Teilnahme von Frauen am Arbeitsmarkt angeht – nirgendwo in Europa arbeiten so viele Frauen in Teilzeit oder nehmen gar nicht am Arbeitsmarkt teil.


Highlight des Abends sind zwei Panel-Diskussionen: Im ersten Gespräch des Abends teilen Finanzminister Jörg Kukies (SPD), Soziologin Jutta Allmendinger und ING DiBa Aufsichtsratsvorsitzende Susanne Klöß dieselbe Einschätzung: Deutschland bietet keinen familienfreundlichen Arbeitsmarkt. Der alte Schröder-Satz „Familie und Gedöns“ sitzt tief und geht auf Kosten der Wirtschaft: Denn gut ausgebildete Frauen fehlen in Zeiten von Fachkräftemangel und demografischen Wandel schmerzlich im Arbeitsmarkt. In der zweiten Gesprächsrunde diskutieren Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD), die ehemalige Ministerin für Bildung und Forschung Bettina Stark-Watzinger (FDP), wirtschaftspolitische Sprecherin der Union Bundestagsfraktion Julia Klöckner (CDU) und Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) – und finden dabei erstaunlich viele Gemeinsamkeiten.


SPD, Grüne, Union einig: Überwindung des Ehegattensplittings ist notwendig


Die Nachricht des Abends: Alle Parteien können sich darauf einigen, dass das Ehegatten-Splitting abgeschafft oder zumindest in ein Familien-Splitting überarbeitet werden muss. 25 Milliarden gehen dem deutschen Staat jährlich durch das Ehegatten-Splitting verloren, stellt Moderatorin Charlotte Parnack (ZEIT) fest. Auch der Finanzminister bestätigt, dass Deutschland international heftig für das Ehegattensplitting kritisiert werde. Gleich zu Anfang macht er jedoch klar: „In dieser Legislatur-Periode wird es vermutlich keine Reform des Ehegatten-Splittings mehr geben“, es fehle die Zeit dafür.

„Für die Reformierung des Ehegatten-Splittings fehlte bisher die politische Mehrheit“, sagt auch Hubertus Heil und wird dabei unterstützt von Grünen-Kanzlerkandidat Robert Habeck: In der Konstellation der Regierung bis zum 6. November hätten Themen zu Geschlechtergerechtigkeit einen schlechten Stand gehabt.

Auch Julia Klöckner, wirtschaftspolitische Sprecherin der Union im Bundestag, findet: „Alles was dazu führt, dass am Ende ein Paar zu Hause sitzt und sagt: Es rechnet sich doch mehr, dass die Frau daheim bleibt, ist es schlecht.“ Zu einer Forderung nach einer kompletten Abschaffung des Ehegatten-Splittings kann sich die Unionspolitikerin nicht durchringen; doch sie stimmt zu, dass eine Reform benötigt wird, aus Sicht der Union in Richtung eines Familiensplittings.


Ausbau von Betreuung, Absetzbarkeit von Betreuungskosten


„Wir machen es uns immer zu einfach zu sagen: Wir haben kein Geld! Wir müssen auch Prioritäten setzen“, sagt Bettina Stark-Watzinger, bis Anfang November Bundesministerin für Bildung und Forschung. Kinderbetreuung müsse in der Breite gefördert werden, Kosten müssen absetzbar sein. Nach einer Erhöhung können Familien aktuell 4.800€ steuerlich geltend machen – gerade in Regionen, wo sich es deutlich weniger Plätze als Kinder gibt, übersteigen schon die Beiträge für Einrichtungen diesen Betrag deutlich. Die mangelnde Flexibilität, die sich aus der schlechten Betreuungssituation ergibt, kostet Frauen aus Sicht der FDP-Politikerin Freiheit und das Recht zur Selbstbestimmung. Die Absetzbarkeit von Betreuungskosten unterstützt auch Julia Klöckner, sie ergänzt den dringend nötigen Mutterschutz für Selbstständige.

Robert Habeck sieht neben dem Ehegattensplitting den Ausbau von Kindertagesstätten, inklusive Öffnungszeiten und Verlässlichkeit in der Betreuung als großen Punkt für die nächste Legislatur. Er zieht den Vergleich zu skandinavischen Ländern, wo ein gesellschaftlicher Konsens zur Vereinbarkeit spürbar sei – den Begriff der „Rabenmutter“ gebe es dort nicht in der Form wie in Deutschland. Dass der kulturelle Kontext in der Frage von Vereinbarkeit zentral ist, hatte zuvor auch Wissenschaftlerin Jutta Allmendinger bestätigt: Vor allem in Westdeutschland befinden sich Frauen in einer „no-win“ Situation – Verhalten, das entgegen geschlechtertypischen Stereotypen geht, wird negativ bewertet und schafft schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt; sie zitiert eine Studie, laut der Frauen, die länger Elternzeit genommen haben, in Bewerbungsgesprächen besser bewertet wurden.


Dringende Investitionen in Strukturen notwendig, um Wirtschaftswachstum zu sichern


Gesellschaftlicher Wandel und Kultur werden sich nicht innerhalb von einer Legislaturperiode ändern. Die Vertreterinnen und Vertreter der Parteien sind sich einig: Es muss schnell Investitionen in die Infrastruktur geben, um mehr Betreuung zu schaffen und Familien zu entlasten.

„Ich bin fest überzeugt, dass der Staat eine Verantwortung hat für frühkindliche Bildung“, sagt Arbeitsminister Heil, doch der dringend notwendige strukturelle Ausbau werde Zeit dauernd. Wenn nur 10 Prozent der aktuell in Teilzeit arbeitenden Frauen wieder voll am Arbeitsmarkt teilnehmen würden, hätte die deutsche Wirtschaft 400.000 Fachkräfte mehr, stellt er fest. Ein schneller Vorschlag zur Entlastung wäre die Unterstützung von Familien durch „Alltagshelferinnen“, haushaltsnahen Dienstleistungen, die aktuell oft in Schwarzarbeit stattfinden. Über ein Haushaltsguthaben und eine App sollen Familien Dienstleistungen bei einer Agentur buchen können – nebenbei werde dadurch auch die Schwarzarbeit verringert.

Dass der Druck nach gleichberechtigter Teilhabe im Arbeitsmarkt nicht nur aus Idealismus entsteht, macht auch Finanzminister Robert Habeck klar. Dass der Druck nach gleichberechtigter Teilhabe im Arbeitsmarkt nicht nur aus Idealismus entsteht, macht auch Finanzminister Robert Habeck klar. Mit den Frauen werde die bestausgebildetste Gruppe vom Arbeitsmarkt ferngehalten. „Wir haben ein wahnsinniges Problem mit dem schieren Arbeitsvolumen in Deutschland“, sagt er – die Lücke an offenen Stellen werde in den nächsten Jahren enorm anwachsen: „Das ist für die Volkswirtschaft nicht tragbar.“

Auch Unternehmen müssen sich dem Thema annehmen, stellt Susanne Klöß, Aufsichtsratsvorsitzende der ING DiBa, im Gespräch mit Jutta Allmedinger und dem Finanzminister klar. So hat die ING vier Wochen bezahlte Elternstartzeit für den zweiten Elternteil eingeführt, einen KiTa- und Pflegezuschuss und die Möglichkeit zum Arbeiten aus dem Ausland. „Schon kleine Beiträge helfen, eine Infrastruktur zu schaffen, die mehr Flexibilität gibt“, sagt sie. Es brauche den Dialog zwischen Wirtschaft und Politik – und positive Beispiele wie Führungstandems aus zwei Führungskräften in Teilzeit.


Ampel einig beim Gewalthilfegesetz: „Darf keine parteipolitische Frage sein.“


Nur einen Tag vor der Veranstaltung hat das Kabinett das Gewalthilfegesetz beschlossen, welches Frauen schützen soll. Auch Vertreterinnen von FRAUEN100 hatten in den vergangenen Wochen immer wieder auf die Dringlichkeit des Gesetzes hingewiesen und einen Brandbrief an die Bundesregierung übergeben. Man könne von der Union nicht erwarten zu springen, nur weil die aktuelle Regierung es in den letzten drei Jahren nicht geschafft habe, das Gesetz durch den Bundestag zu bringen, sagt Julia Klöckner auf die Frage, ob die Union für das Gesetz stimmen werde.

Die Unionsfraktion müsse den Gesetzesentwurf erst mal lesen, es gebe wichtige Punkte, die sie gerne einbringen wollen. Auf eine definitive Bestätigung, dass die Union das Gewalthilfegesetz unterstützen wird, warten die Gäste beim Dinner vergeblich. Hubertus Heil hält dagegen und betont, dass man nicht alle Themen in einem Gesetz abbilden könne, es aber bei einem solch wichtigen Thema einen Konsens zwischen demokratischen Parteien geben müsse. Auch Bettina Stark-Watzinger findet: Es gibt Themen, die gehören nicht in den Wahlkampf. Für das Gewalthilfegesetz wünscht sie sich zügig eine parteiübergreifende Lösung – die FDP sei bereit, sich in einen solchen Prozess einzubringen. Grünen Kanzlerkandidat Robert Habeck macht am Ende noch einmal klar, dass die Themen des Abends keine „Frauenthemen“ sind: „Für mich ist klar, dass wir diese ganzen Fragen zu gesellschaftlich lösen, indem sich auch Männer in die Pflicht nehmen.“


Demokratische Einigkeit


Eine solch konstruktive demokratische Debatte macht Mut – da sind sich viele Gäste des Abends einig. Auch wenn sich die Vertreterinnen und Vertreter der Politik nicht in allen Details einig waren, das grundlegende Problem und auch die Dringlichkeit haben alle erkannt. Gerade beim Gewalthilfe-Gesetz schien es mehr um die Sache zu gehen als um parteipolitische Interessen – vor allem unter den Ampel-Parteien. Der Abend soll den Grundstein für eine von FRAUEN100 initiierte parteiübergreifende Arbeitsgruppe legen, in der bis zur Koalitionsverhandlung im Frühjahr konkrete Maßnahmen erarbeitet werden. Ziel ist, diese in einen möglichen neuen Koalitionsvertrag aufzunehmen und so sicherzustellen, dass dieser Abend der erste Schritt hin zu besserer Vereinbarkeit und Teilnahme von Frauen am Arbeitsmarkt in Deutschland ist – auch nach dem Wahlkampf.


Text von Mirijam Trunk


Vielen Dank an Quadriga Berlin für die wunderbare Zusammenarbeit. Ebenfalls an unseren Kooperationspartner ING DiBa sowie unsere weiteren Partner, die dieses Event möglich gemacht haben. 

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