Was es bedeutet, eine Erste zu sein
28. Juni 2025

Im Herbst 2020, als wir angespannt auf die Ergebnisse bei den US-Präsidentschaftswahlen warteten, sah ich mit meiner kleinen Tochter einen Filmclip, in dem die damalige Vizepräsidentschaftskandidatin Kamala Harris mit einer Gruppe Cheerleader-Mädchen tanzte und sichtlich Spaß dabei hatte. Meine Tochter war beeindruckt, dass eine Politikerin so locker mit Kindern und Jugendlichen herumalberte. Als wenig später die erlösende Nachricht kam, dass Joe Biden und Kamala Harris die Wahlen gewonnen hatten, erzählte ich ihr, dass Harris tatsächlich die erste weibliche Vizepräsidentin werden würde.
«Ist das die, die mit den Mädchen tanzt?», fragte meine Tochter.
«Ja, das ist die, die mit den Mädchen tanzt!», erwiderte ich.
Und darum geht es bei den Ersten. «You can’t be what you can’t see», sagt die amerikanische Aktivistin Marian Wright Edelman, die sich für Kinderrechte einsetzt. Vorbilder sind essenziell. Nicht nur für Kinder.
It’s the misogyny, stupid!
Vier Jahre später trat Kamala Harris erneut an, dieses Mal ging es um die Nummer eins. Und inzwischen wissen wir, dass sie sich nicht durchsetzen konnte. Statt einer erfahrenen Frau – einer ehemaligen Generalstaatsanwältin, Senatorin und Vizepräsidentin – hat, wie schon seinerzeit bei Hillary Clinton, der Mann das Rennen gemacht, der deutlich weniger Expertise hatte.
Viele zitierten nach der für die Demokraten verlorenen Wahl letzten Herbst einen Spruch aus der Ära Bill Clintons «It’s the economy, stupid». Und bestimmt waren die unsichere wirtschaftliche Situation und die gestiegenen Preise für viele Amerikanerinnen und Amerikaner ein Grund, den gewieften Geschäftsmann zu wählen. Aber klar ist auch, dass der Fakt, dass Kamala Harris eine Frau ist, noch dazu eine Frau indisch-jamaikanischer Herkunft, eine nicht unbedeutende Rolle gespielt hat. Analog würde ich also formulieren: «It’s the misogyny, stupid».
Triumph und Kraftakt
Am Beispiel von Kamala Harris kann man eindrücklich sehen, was es bedeutet, eine Erste zu sein: Vielfach in ihrem Leben und in ihrer beruflichen Karriere, so Harris, sei sie in Räume gekommen, in denen sie niemand fand, die aussah wie sie selbst. Mit dieser Feststellung spricht die Politikerin den springenden Punkt an, der mich beschäftigt: Die Erste sein – das ist natürlich verbunden mit einem Erfolgserlebnis, mit Triumph, mit einem weiteren beachtlichen Loch in der gläsernen Decke, es ist aber vor allem ein Kraftakt. Die Erste sein heißt aufzufallen, nicht reinzupassen, keine Vorbilder zur Nachahmung zu haben. Es heißt auch, dass es keine ausgetretenen Pfade gibt, vielmehr gilt es, sich erst einen Weg freizuschlagen und Neuland zu erobern. Und schließlich heißt es, sich permanent rechtfertigen zu müssen.
Ein Anzug tragender Mann in fortgeschrittenem Alter muss kaum jemandem auseinandersetzen, warum er diesen oder jenen Job möchte, dieses oder jenes Amt anstrebt. «Obrigkeit ist männlich. Das ist ein Satz, der sich eigentlich von selbst versteht», schrieb der sächsische Historiker, Antisemit und Frauenfeind Heinrich von Treitschke Ende des 19. Jahrhunderts, und bis zum heutigen Tag machen Politikerinnen, Funktionärinnen, generell Frauen, die für einen Posten die Hand heben, die Erfahrung, dass ihr Engagement erklärungsbedürftig ist. Unser mentales kulturelles Modell einer mächtigen Person, so die Historikerin Mary Beard, sei weiterhin eindeutig männlich. Frauen, die Machtanspruch erheben, sind noch immer suspekt. Männliche Herrschaft, meint auch der französische Soziologe Pierre Bourdieu, sei deswegen so dominant, weil sie der Rechtfertigung nicht bedürfe.
Rückwärts auf High Heels
Es verlangt einer Frau also viel ab, Erste zu sein. Neben all dem Engagement, dem Durchhaltevermögen und der Arbeit, die ohnehin nötig sind, um eine außergewöhnliche Karriere zu machen, müssen es die Ersten zusätzlich aushalten, dass ihre schiere Gegenwart unentwegt infrage gestellt wird. Die Anforderungen also an Frauen, dorthin zu gelangen, wo Männer seit Jahrhunderten ganz selbstverständlich agieren – an die Schaltstellen der Macht –, waren und sind zum Teil noch heute enorm. Um es mit den Worten der US-amerikanischen Politikerin Faith Whittlesey zu sagen: «Ginger Rogers tat nichts anderes als Fred Astaire, aber sie tat es rückwärts und mit High Heels.»
Rückwärts auf High Heels – das kann tricky sein. Wichtig ist, dass wir Frauen uns dabei zusammentun, auch um uns gegenseitig zu stützen, wenn wir ins Schlingern geraten.
Besonders jetzt, denn aktuell sehen wir die Renaissance einer maskulinen Breitbeinigkeit. Diese geht nicht zuletzt vom neuen Mann im Weißen Haus aus, sie lässt sich aber durchaus auch hierzulande beobachten.
Droht uns nun ein veritabler Backlash? Die Worte von Harris’ Mutter – «Kamala, du kannst in vielen Dingen, die Erste sein, aber bleib nicht die Einzige» – bekommen in jedem Fall eine neue Dringlichkeit.
Gastbeitrag von Heike Specht.
Foto Credit: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Brynn Anderson