Was das Aussehen mit Business zu tun hat – und warum wir sprechen müssen
11. Dezember 2025

Im Business zählt Leistung, Erfahrung, Strategie – sollte man meinen. Trotzdem beeinflusst etwas anderes, wie wir Frauen wahrnehmen: das Aussehen. Studien zeigen, dass Wimperntusche, Lippenstift oder glatte Haut subtil darüber entscheiden, ob man als kompetent gilt – und das nicht nur bei Männern, sondern auch bei anderen Frauen.
Schönheit als Karriere-Booster, Schminke als Karriere-Falle. Zoom, KI-Headshots, Facetune – die Spielregeln verändern sich ständig. Aber eines bleibt gleich: Frauen navigieren permanent zwischen professionell, attraktiv und sichtbar – und manchmal fühlt sich der Job eher wie ein Schönheitswettbewerb an. In diesem Journal werfen wir einen kritischen Blick auf das „Pretty Privilege“, Video-Call-Stress und den ständigen Balanceakt zwischen Leistung und Ästhetik. Und wir fragen: Können wir endlich Kompetenz von Kosmetik trennen – oder bleibt es immer Teil unserer Karriere?
Es gibt Studien, die überraschen. Und dann gibt es jene, die uns lediglich daran erinnern, dass die Arbeitswelt in Sachen Gleichberechtigung immer noch im frühen Beta-Modus läuft. Frauen mit starkem Make-up gelten laut schottischer Befragung als weniger führungsstark – und zwar sowohl bei Männern als auch bei anderen Frauen. Zur Erinnerung: Wir reden hier nicht über Entscheidungsstärke, Urteilsvermögen oder berufliche Erfahrung. Wir reden über Rouge. Doch nicht nur die Arbeitswelt ist sich bei der Thematik uneins, sondern auch die Studienlage. Denn ältere Studien hatten genau das Gegenteil behauptet: Make-up mache Frauen kompetenter, professioneller, beförderungswürdiger. Einige Arbeitgeber hielten „ungeschminkt“ beim Bewerbungsgespräch sogar für ein Ausschlusskriterium. Kurz gesagt: Frauen sollen Make-up tragen – aber bitte so, dass es niemand stört, niemand einschüchtert und niemand auf die Idee bringt, dass diese Frau vielleicht Eitelkeit über Excel setzt. Ein ästhetisches Balancebrett, auf dem man gleichzeitig sichtbar und unsichtbar sein soll.
Die unsichtbare Währung Schönheit
Es ist kein Geheimnis, aber ein Tabu: Schönheit wirkt im Berufsleben wie eine zweite, unausgesprochene Qualifikation. Studien zeigen seit Jahren: Attraktivere Menschen verdienen mehr, werden häufiger eingestellt, steigen schneller auf.
Das bedeutet nicht, dass Leistung bedeutungslos wäre. Aber es bedeutet, dass Aussehen ein Radar ist, das permanent mitschwingt – subtil, oft unbewusst, aber messbar. Kompetenz ist unsichtbar. Bias nicht. Und je besser sich Schönheit technologisch „herstellen“ lässt – durch Skincare, Behandlungen, Filter, künstlich generierte Bewerbungsfotos –, desto stärker wird der Druck, die eigene Oberfläche zu optimieren.
Arbeit im Zeitalter der Selbstbetrachtung
Der größte Gamechanger der letzten Jahre war ausgerechnet ein unscheinbarer kleiner Button: „Video einschalten“. Seitdem wir stundenlang in Meetings sitzen, in denen unser eigenes Gesicht neben dem Chart mitläuft, begegnen wir uns täglich selbst – und meist nicht liebevoll. Studien belegen: Je häufiger Menschen Videocalls nutzen, desto kritischer werden sie mit ihrem Aussehen. Auch Dermatolog*innen berichten von einem sprunghaften Anstieg kosmetischer Anfragen, ausgelöst durch Zoom, Teams und Co. Das Homeoffice hat zwar den Dresscode entspannt, aber gleichzeitig eine neue Bühne geschaffen, in der unser Gesicht permanent im Spotlight steht. Nicht die Präsentation wird bewertet – sondern die kleine Version unseres Selbst.
KI macht jetzt mit – und verschiebt die Grenzen weiter
Was früher Studiofotograf*innen mit perfekter Ausleuchtung und Retusche erledigten, schafft heute KI in Sekunden: Makellose Porträts, neutralisierte Haut, standardisierte Ästhetik. Bewerbungsfotos werden zum Schönheitsfilter im Business-Outfit. Die Ironie: Parallel dazu fördern Unternehmen offiziell Diversität und Inklusion. Inoffiziell sterben Individualität und kulturelle Vielfalt auf dem KI-Optimierungsaltar einen leisen Tod. Wenn der Algorithmus definiert, wie ein „professionelles“ Gesicht auszusehen hat, verschwimmt die Grenze zwischen realem Menschen und idealisierter Avatar-Version immer weiter.
Warum wir selbst Teil des Problems sind
Natürlich reagieren Menschen auf Anreize. Wenn eine faltenfreie Stirn oder ein standardisiertes KI-Foto individuell helfen könnten, wieso sollte man verzichten? Viele investieren nicht (nur) wegen äußerem Druck, sondern weil sich makellose Oberflächen mittlerweile wie Selbstfürsorge anfühlen. Die Grenze zwischen persönlichem Wohlbefinden und gesellschaftlichem Erwartungsmanagement ist kaum noch erkennbar. Gerade Frauen navigieren dieses Feld doppelt: als Bewertete und Bewertende. Frauen bewerten Frauen. Und Make-up wird zur sozialen Signalsprache, die Kompetenz überschatten kann.
PS: Schminken oder nicht – das ist keine Karrierefrage
Und noch etwas zum Schluss: Dieser Text ist kein Plädoyer gegen Make-up. Ganz im Gegenteil: Frauen sollen tragen, was sie wollen – ob kräftiger Lippenstift, dezent getönter Lippenbalsam oder gar nichts. Wer sich mit Schminke wohlfühlt, soll sich damit ausdrücken dürfen, ohne dass Kompetenz oder Führungsstärke automatisch infrage gestellt werden. Auch hier habe ich wieder eine Studie in petto: 72 Prozent von 1.511 der Frauen geben an, Make-up zu benutzen, um besser auszusehen. Ganz vorne mit dabei: die Mascara. Doch es geht nicht darum, Regeln aufzustellen, sondern um Bewusstsein: Die Karriere wird nicht durch Wimperntusche bestimmt. Aber wir leben in einer Welt, in der sie es leider manchmal beeinflusst. Wer das weiß, kann bewusst entscheiden – und nicht, weil eine Studie oder ein Algorithmus sagt, wie die „richtige“ Version von einem aussehen soll. Schminken ist Selbstbestimmung. Nicht Bedingung.
Und nun? Der blinde Fleck: Kompetenz sieht man nicht
Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass wir als Gesellschaft immer noch versuchen, Fähigkeiten aus Gesichtern herauszulesen. Wir suchen Dominanz in Wangenknochen, Leadership in Lippenfarben, Professionalität in Hauttexturen. Es funktioniert nicht. Es hat nie funktioniert. Und dennoch prägt es Entscheidungen – manchmal unbewusst, manchmal ganz offen.
Manche Frauen wagen bewusst den Schritt, sich ungeschminkt zu zeigen: Pamela Anderson, Alicia Keys, die deutsche Moderatorin Lola Weippert traten ohne Make-up auf dem roten Teppich auf – und wurden dafür von Medien gefeiert. Mutig, inspirierend, vorbildlich. Im Alltag sieht die Realität oft anders aus: Wer ungeschminkt ins Büro kommt, hört nicht Applaus, sondern Kommentare wie „Du siehst blass aus, bist du krank?“ Plötzlich ist Authentizität Anlass für Beurteilung.
Wenn wir wirklich Fortschritt wollen, müssen wir die Frage stellen, die unter all dem Make-up, den Filtern und den Studien verborgen liegt: Warum fordern wir von Frauen ständig, gleichzeitig authentisch und optimiert zu sein? Warum wird Leistung gemessen – und dann doch wieder Aussehen bewertet? Warum ist Erfolg für Frauen so oft an ein „richtiges“ Erscheinungsbild gekoppelt?
Die Antwort ist unbequem, aber klar: Weil wir es uns als Gesellschaft zu lange bequem gemacht haben, Schönheit als Qualitätsindikator zu akzeptieren. Und solange das so bleibt, führen Frauen nicht nur Projekte oder Teams – sondern auch einen täglichen Verhandlungskampf um ihre eigene Oberfläche.
Ein Kampf, der nichts mit ihrem Können zu tun hat. Und alles mit unseren Erwartungen.
Text von Rebecca Stringa




