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Wenn die Hälfte fehlt – warum Vielfalt in der Politik über die Zukunft der Demokratie entscheidet

23. Dezember 2025

Ich erinnere mich an eine Zeit, in der der Frauenanteil im Bundestag erstmals über ein Drittel stieg. Damals schien es, als sei Parität nur noch eine Frage der Zeit. Damals schien es, als bewege sich etwas – als kämen wir einem ausgewogenen Verhältnis näher. Doch hinter den Zahlen blieb vieles beim Alten: Die Machtzentren blieben männlich, die politischen Routinen veränderten sich nur wenig.


Heute, zwölf Jahre später, ist davon wenig geblieben.

Der Anteil von Frauen in der Politik stagniert oder sinkt sogar wieder – und Vielfalt bleibt eine Ausnahme. Der Frauenanteil im Bundestag liegt bei 32,4 Prozent. Auf kommunaler Ebene sind es im Schnitt 30,5 Prozent, mit einer Spannbreite zwischen 22 und 42,5 Prozent. Nur 13,5 Prozent der Bürgermeister*innen in Deutschland sind Frauen. Noch deutlicher wird das Repräsentationsdefizit, wenn man über Geschlecht hinausblickt: 29,7 Prozent der Bevölkerung haben eine Migrationsgeschichte, aber nur 11,6 Prozent der Abgeordneten. Frauen mit Migrationsgeschichte, queere Frauen, solche mit Behinderung oder aus Arbeiterfamilien sind nahezu unsichtbar. Das bedeutet: Unsere Parlamente bilden die Gesellschaft nicht ab – weder sozial noch kulturell.


Wenn Vielfalt fehlt, fehlt Demokratie

Das Fehlen von Frauen in der Politik ist kein Nebenschauplatz, sondern eine Frage demokratischer Legitimation. Wer in den Parlamenten sitzt, bestimmt, welche Themen auf die Agenda kommen, wie über Probleme gesprochen wird und wessen Erfahrungen in Gesetze einfließen.


Ein historisches Beispiel zeigt das eindrücklich: Die Strafbarkeit von Vergewaltigung in der Ehe wurde 1997 nur deshalb Realität, weil sich Politikerinnen verschiedener Parteien zusammenschlossen – gegen den Widerstand vieler männlicher Kollegen. Dieses überfraktionelle Bündnis machte sichtbar, dass Frauenpolitik kein Nischenthema ist, sondern das Fundament einer gerechten Gesellschaft.


Wo Frauen mitgestalten, verändert sich der Blick auf Politik: Themen wie Care-Arbeit oder Gewaltschutz treten aus dem Schatten. Forschung aus der Wirtschaft belegt zudem, dass divers besetzte Gremien bessere Entscheidungen treffen, weil sie mehr Perspektiven abwägen, Risiken früher erkennen und nachhaltiger argumentieren. Vielfalt ist also kein moralisches Projekt – sie ist eine Frage politischer Qualität.


Warum es Frauen immer noch schwer haben

Trotz Quoten, Gleichstellungsplänen und Lippenbekenntnissen bleibt der politische Alltag vieler Frauen ein Kampf gegen strukturelle Hindernisse. Parteigremien tagen oft spätabends – eine unausgesprochene Exklusionsregel für alle, die Kinder betreuen oder überhaupt ein Leben neben der Politik führen möchten. Aufstellungen von Kandidat*innen sind häufig noch geprägt von Machtspielen, Loyalitäten und informellen Netzwerken, in denen Männer einander fördern und schützen. Dazu kommt die Gewalt im digitalen Raum: Beleidigungen, sexualisierte Angriffe, Desinformation. Viele Politikerinnen berichten, dass sie sich selbst zensieren, weniger posten, ihre Meinung vorsichtiger formulieren – aus Angst vor Hasskampagnen. Das Ergebnis: Die Politik verliert Stimmen, die sie dringend braucht insbesondere in der Kommunalpolitik, wo Unterstützungsstrukturen fehlen– und gerade in Zeiten, in denen Demokratie verteidigt werden muss.


Die Rückkehr alter Muster

Denn gleichzeitig beobachten wir eine gefährliche Gegenbewegung. Gleichstellung wird heute nicht nur als „Sonderanliegen“ verhandelt – sie wird zunehmend aktiv bekämpft. In mehreren Bundesländern wurden Initiativen laut, die die Arbeit von Gleichstellungsbeauftragten einschränken oder abschaffen wollen. In Sachsen etwa war zuletzt ein Gesetzentwurf in Diskussion, der die kommunale Gleichstellungsarbeit von einer Pflicht- in eine freiwillige Aufgabe umwandeln würde – mit gravierenden Folgen für Chancengleichheit, Teilhabe und demokratische Entwicklung. Dagegen hat sich das sächsische Bündnis #unverhandelbar formiert, getragen von Gleichstellungsbeauftragten, Frauenverbänden und zivilgesellschaftlichen Organisationen. Ihr Appell: Gleichstellung ist kein Luxus, sondern eine Grundbedingung demokratischer Teilhabe.


Auch bundesweit ist ein erstarkender Antifeminismus zu beobachten. Die Meldestelle Antifeminismus, dokumentiert systematisch Angriffe, Bedrohungen und Hetze gegen Menschen, die sich für Geschlechtergerechtigkeit einsetzen – darunter Gleichstellungsbeauftragte, Politikerinnen und Aktivistinnen. Diese Angriffe sind Teil eines größeren antidemokratischen Trends: Antifeminismus ist längst ein verbindendes Element rechter Bewegungen – und richtet sich nicht nur gegen Frauen, sondern gegen eine offene, pluralistische Gesellschaft insgesamt. 


„Zu anders für die Macht?“ – Erfahrungen aus der politischen Realität

In meinem gemeinsam mit Tannaz Falaknaz und Cecil Weidhofer herausgegebenen Buch „Zu anders für die Macht?“ erzählen Politikerinnen unterschiedlicher Herkunft, und Lebensrealität, wie es sich anfühlt, „die andere“ zu sein – in Parteien, oft an alten Strukturen festhalten. Diese Gespräche zeigen, was statistische Daten allein nicht erfassen: dass strukturelle Hürden auch emotionale und kulturelle Hürden sind. Dass Frauen, die Macht beanspruchen, sich doppelt legitimieren müssen – als kompetent und als „nicht zu anders“. Dass parteipolitische Räume, die offiziell offen sind, in der Praxis oft nach inoffiziellen Codes funktionieren – nach dem, was „normal“ klingt, aussieht, sich bewegt. Sie zeigen aber auch eine andere Seite. Politik zu machen ist sinnerfüllend und macht Spaß – und Strukturen sind menschengemacht, sie lassen sich verändern. Mit Beharrlichkeit und Mut. Und beides brauchen wir gerade dringend.


Neue Wege: Frauen. Vielfalt. Politik.

Hier setzt das Projekt Frauen. Vielfalt. Politik. der EAF Berlin an. Es untersucht, warum Frauen mit unterschiedlichen Hintergründen in Parteien und Parlamenten so stark unterrepräsentiert sind – und entwickelt Strategien, wie sich das ändern lässt.


Dazu gehören Empfehlungen für gerechtere Auswahlverfahren, Mentoringprogramme, Empowermentformate und Vorschläge für strukturelle Reformen in der politischen Nachwuchsarbeit. Ziel ist, Politikräume zu öffnen, die der Realität der Bevölkerung entsprechen – divers, inklusiv, zukunftsfähig. Denn die Repräsentationslücke ist nicht nur ein Problem der Gleichstellung – sie gefährdet das Vertrauen in demokratische Institutionen insgesamt. Wenn Menschen sich in der Politik nicht wiederfinden, ziehen sie sich zurück. Demokratie aber lebt davon, dass sich viele beteiligen, nicht wenige behaupten.

Wenn Frauen fehlen, fehlen Perspektiven. Wenn Vielfalt fehlt, fehlt Demokratie. Das Ziel ist nicht symbolische Repräsentation, sondern echte Teilhabe an Macht. Denn nur wenn alle Stimmen gehört werden, kann Politik Lösungen finden, die für alle tragen.


Die Frage ist also nicht, ob wir uns Vielfalt leisten können – sondern, ob wir uns leisten können, weiter auf sie zu verzichten.


Gastbeitrag von Stefanie Lohaus

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