Danach = Davor: Zwischen Tabu, Mythen und Selbstbestimmung
10. September 2025

Eine junge Frau steht in der Apotheke. Hinter ihr die Schlange, vor ihr die Bitte, die vielen schwer über die Lippen geht: „Ich bräuchte die Pille danach.“ Noch immer haftet Notfallverhütung ein Tabu an – obwohl sie längst rezeptfrei, sicher, gut verträglich und von der WHO als „unentbehrliches Arzneimittel“ anerkannt ist. Dass sie trotzdem mit Mythen, Scham und politischer Symbolik aufgeladen bleibt, zeigt, wie sehr reproduktive Selbstbestimmung in Deutschland bis heute umkämpft ist.
Mythen und Fakten
Die Pille danach ist weder eine „Abtreibungspille“ noch eine „Hormonbombe“. Ihr Wirkmechanismus ist simpel: Sie verschiebt den Eisprung, sodass eine Befruchtung gar nicht erst stattfinden kann. Eine bestehende Schwangerschaft kann sie nicht beenden – anders als die Abtreibungspille Mifepriston, die nur unter ärztlicher Aufsicht eingesetzt wird.
Dennoch hält sich die falsche Vorstellung hartnäckig: Fast die Hälfte der Deutschen glaubt laut YouGov-Umfrage 2024², die Pille danach sei eine Form der Abtreibung. Nur 10 % konnten ihre Wirkweise korrekt erklären.
Dabei sprechen die Zahlen eine andere Sprache: Seit der Rezeptfreiheit 2015 wurde der führende Wirkstoff Ulipristalweltweit über 60 Millionen Mal eingenommen¹ – sicher, gut verträglich, ohne kurz- oder langfristige Folgen für die Fruchtbarkeit.
Politik zwischen Schutz und Kontrolle
Interessant ist, wie Politik mit diesem Medikament umgeht. Die CDU/CSU-Fraktion forderte 2024 immerhin, dass Opfer sexueller Gewalt kostenlosen Zugang zur Pille danach bekommen sollen. Damit erkennt die Union erstmals offiziell an: Notfallverhütung kann ungewollte Schwangerschaften – und damit auch Abbrüche – verhindern.
Gleichzeitig hält man am Werbeverbot für die Pille danach fest. Sie wird im Heilmittelwerbegesetz in einem Atemzug mit Suchtmitteln genannt – ein Anachronismus, der Aufklärung erschwert und das gesellschaftliche Stigma weiter befeuert.
Selbstbestimmung oder Zufall?
Die Pille danach ist mehr als ein „Notnagel“: Sie ist ein Baustein reproduktiver Selbstbestimmung. Wer nach einer Verhütungspanne frei entscheiden kann, ob jetzt der richtige Zeitpunkt für ein Kind ist, sichert die eigene Lebensplanung – ob Studium, Berufseinstieg oder Familiengründung später.
Denn ungeplante Schwangerschaften sind kein Randphänomen: In Deutschland sind es laut aktueller ELSA-Studie³ etwa die Hälfte aller ungeplanten Schwangerschaften, die in einer Abtreibung enden. Dabei fühlen sich hierzulande laut YouGov² 41 % der Menschen schlecht aufgeklärt, bei Jugendlichen sogar 45 %. Unwissen, Tabu und Fehlinformationen tragen also direkt dazu bei, dass Frauen vor existenziellen Entscheidungen stehen – oft unter Zeitdruck und in Scham.
Was sich ändern müsste
Aufklärung ist Prävention. Wer über Notfallverhütung informiert ist, kann ungeplante Schwangerschaften verhindern – und so auch Schwangerschaftsabbrüche und die damit verbundenen seelischen Belastungen. Andere Länder zeigen: Wenn seriös über die Pille danach informiert wird, führt das nicht zu Missbrauch, sondern zu mehr Sicherheit. In Großbritannien nehmen Frauen sie durchschnittlich nur 2,4 Mal im Leben, in Italien 1,8 Mal – trotz produktbezogener Werbung.
Dass in Deutschland ausgerechnet hier geschwiegen wird, ist widersinnig. Statt Stigmatisierung bräuchte es offene Information: in Schulen, Apotheken, Medien – und auch vom Hersteller selbst, die über Expertise und Reichweite verfügen.
Mehr als ein Medikament
Am Ende geht es um mehr als ein Präparat. Es geht um die Frage: Trauen wir Frauen zu, selbstbestimmte, informierte Entscheidungen über ihre Familienplanung zu treffen – oder nicht? Solange die Pille danach in Deutschland als Tabu behandelt wird, bleibt auch die Selbstbestimmung Stückwerk. Das muss sich ändern, denn Danach = Davor.
Dieser Beitrag entstand in Kooperation mit #nurwennichesweiss.
Quellen:
¹ Contraception Usage & Attitudes Study, Germany, Ipsos, 2025 IPSOS
² YouGov - Umfrage zum Thema Notfallverhütung, Umfrage von YouGov im Auftrag von Perrigo Deutschland GmbH, Stichprobe: 2036 Personen, gewichtet und repräsentathiv für die deutsche Bevölkerung ab 18 Jahren, Befragungszeitraum 26.01.2024 bis 06.02.2024.
³ ELSA - Abschlussbericht der Studie: Erfahrungen und Lebenslagen ungewollt Schwangerer. Angebote der Beratung und Versorgung (ELSA) - gefördert durch das Bundesministerium für Gesundheit