Die heilige Brust und das oeffentliche Tabu
6. Januar 2026

Stillen ist kein Tabu, wir machen es dazu. Obwohl es um die Versorgung eines Grundbedürfnisses geht, wird öffentliches Stillen bis heute sexualisiert, bewertet und reglementiert. Mütter sollen sich bedecken, zurückziehen oder rechtfertigen – während niemand fragt, wann und wo Erwachsene essen dürfen. Aktuelle Umfragen aus Österreich und Deutschland zeigen, wie tief diese Haltung verankert ist.
Ich stand vor Kurzem an Weihnachten mal wieder in einer Kirche. Krippe, Kerzen, Stille. Maria, das Kind auf dem Arm – in vielen Darstellungen an der Brust. Und plötzlich dachte ich: Wie absurd eigentlich, dass dieses Bild seit Jahrhunderten verehrt wird – während reale Frauen dafür noch immer angefeindet werden. Niemand würde in der Kirche empört flüstern: „Das gehört hier nicht hin.“ Niemand würde Maria bitten, sich zu bedecken. Niemand würde behaupten, das sei unhygienisch, unangemessen oder provozierend. Doch genau diese Worte hören stillende Mütter alltäglich.
Stillen ist kein Tabu. Wir machen es dazu.
Stillen ist die Versorgung eines Grundbedürfnisses. Punkt. Und trotzdem wird es gesellschaftlich nicht als das gesehen, was es ist, sondern sexualisiert, moralisiert und kontrolliert. Eine repräsentative Umfrage aus Österreich zeigt, wie tief dieses Denken verankert ist: 19 Prozent der Befragten sind der Meinung, die Brust gehöre grundsätzlich nicht in den öffentlichen Raum. Weitere 19 Prozent empfinden öffentliches Stillen als „unhygienisch“. Drei Prozent wollen stillende Mütter sogar vollständig aus dem öffentlichen Leben verbannen. Das Entscheidende daran: Keine einzige Mutter empfindet öffentliches Stillen als unangemessen. Das heißt: Diejenigen, die nicht stillen, definieren die Regeln. Und die, die betroffen sind, sollen sich anpassen.
Wenn Versorgung sexualisiert wird
Das eigentliche Problem ist nicht die Brust. Das Problem ist, dass wir sie nicht aushalten, wenn sie nicht für andere gedacht ist. Sichtbares Stillen wird nicht als Fürsorge wahrgenommen, sondern als Grenzüberschreitung. Als etwas, das „zu viel“ ist. Zu intim. Zu sichtbar. Zu weiblich. Während Männer im Sommer oberkörperfrei durch Städte joggen, wird die weibliche Brust zum gesellschaftlichen Problem – ausgerechnet dann, wenn sie ein Baby ernährt. Zwei von drei stillenden Müttern berichten von negativen Reaktionen: angestarrt, zurechtgewiesen, vom Platz verwiesen oder aufgefordert, auf die Toilette auszuweichen. Man stelle sich vor, Erwachsene müssten zum Essen ins Klo gehen. Der Gedanke ist absurd – für Babys offenbar nicht.
„Bedeck dich doch“ – die Illusion der Akzeptanz
29 Prozent der Befragten finden öffentliches Stillen nur dann in Ordnung, wenn sich die Mutter dabei bedeckt. Elf Prozent erwarten, dass sie sich dafür in nicht einsehbare Bereiche zurückzieht. Was nach Kompromiss klingt, ist in Wahrheit eine klare Botschaft: Du darfst stillen – aber bitte so, dass wir es nicht sehen müssen. Stillkabinen und Rückzugsräume können eine freiwillige Option sein. Problematisch werden sie dort, wo Rückzug zur Erwartung wird. Wo Wahlfreiheit zur sozialen Pflicht mutiert. Wo Sichtbarkeit als Zumutung gilt.
Und dann: Frauen gegen Frauen
Besonders ernüchternd ist der Blick nach Deutschland. Eine repräsentative YouGov-Umfrage zeigt: 26 Prozent der Befragten finden Stillen in der Öffentlichkeit nur vertretbar, wenn die Brust bedeckt ist. Bemerkenswert – und schmerzhaft: Frauen stimmen dieser Aussage häufiger zu als Männer. 31 Prozent der Frauen, aber nur 20 Prozent der Männer fordern Verdeckung. Hier stellt sich eine unbequeme Frage: Wo bleibt die Solidarität? Warum sind es ausgerechnet Frauen, die die Regeln weitertragen, die weibliche Körper kleinhalten? Vielleicht, weil viele von uns gelernt haben, dass Anpassung sicherer ist als Sichtbarkeit. Dass man weniger aneckt, wenn man leise bleibt. Rücksichtsvoll. Unsichtbar. Aber genau dieses Verhalten stabilisiert ein System, das Mütter aus dem öffentlichen Raum drängt.
Gesetzlicher Schutz statt gesellschaftlicher Willkür
75 Prozent der Menschen aus unserem Nachbarland Österreich sprechen sich inzwischen für einen gesetzlichen Schutz stillender Mütter im öffentlichen Raum aus. Unter jungen Menschen sind es sogar 85 Prozent. Das zeigt: Die Gesellschaft ist weiter als ihre politischen Rahmenbedingungen. Andere Länder wie Schottland haben längst gesetzlich geregelt, dass Stillen im öffentlichen Raum nicht behindert werden darf. Österreich – wie auch Deutschland – diskutiert noch darüber, wo eine Mutter „darf“. Diese Unsicherheit geht nicht zulasten der Gesellschaft. Sie geht zulasten von Frauen und Kindern.
Vielleicht sollten wir uns öfter an Weihnachten erinnern
An das Bild, das seit Jahren unkritisch verehrt wird: Eine Mutter. Ein Kind. Eine Brust. Ohne Scham. Ohne Auflagen. Ohne Debatte. Stillen ist kein politisches Statement. Es wird nur eines, weil wir weibliche Körper noch immer kontrollieren wollen – selbst dann, wenn sie nichts anderes tun, als Leben zu versorgen.
Text von Rebecca Stringa




