Neue Perspektiven Des Fussballs – Interview mit Ulrike Hiller
27. Juni 2024

Gleichstellung im Sport ist nicht nur auf dem Spielfeld, sondern auch hinter den Kulissen noch lange nicht erreicht. Nur 14 % der Führungspositionen in europäischen Sportorganisationen sind mit Frauen besetzt. Besonders ungleich ist die Situation im Fußball. Doch auch hier gibt es Länder, Vereine und Frauen, die vorangehen, Veränderungen vorantreiben und sich für mehr Geschlechtergerechtigkeit einsetzen.
Ulrike Hiller hat sich schon lange ehrenamtlich und politisch engagiert, bevor sie später für die SPD in die Bremische Bürgerschaft einzog. Zuletzt war sie Bevollmächtigte Bremens beim Bund, bevor sie sich 2019 aus der Politik zurückzog. Erst kürzlich erschien ihr Buch "Politik ist weiblich" und heute arbeitet sie als werteorientierte systemische Beraterin und Coach. Doch sie hat noch eine weitere extrem spannende Position inne: Seit September 2021 ist Hiller die erste Frau im Aufsichtsrat des SV Werder Bremen. Wir haben mit ihr über das Klima an der Spitze des deutschen Profifußballs, den Stand der Gleichstellung im Sport und wie man junge Menschen für Bewegung und Engagement begeistern kann, gesprochen.
Eine kurze Klärung vorab: Was macht eigentlich der Aufsichtsrat eines Fußballclubs?
Der Aufsichtsrat eines Fußballvereins in der Bundesliga kontrolliert und berät den Vorstand insbesondere in finanziellen und strategischen Fragen. Er tagt in der Regel viermal im Jahr und ist nicht operativ tätig, sondern konzentriert sich auf die Überwachung und Beratung des Vorstands.
Nur 5,6 Prozent der Führungspositionen im deutschen Profifußball sind von Frauen besetzt. Du bist im Aufsichtsrat von Werder Bremen eine davon. Wie macht sich das bemerkbar?
Als erste Frau im Aufsichtsrat des SV Werder Bremen musste ich mich zunächst in die komplexe Welt einer ausgegliederten Gesellschaft eines Fußballvereins einarbeiten. Jeder Bundesligaclub hat eine eigene Struktur und mein Jurastudium hat mir geholfen, vieles schneller einzusortieren. Trotz einer sehr guten Einarbeitung des Vorstands gab es viel zu lernen und zu verstehen, denn es handelt sich um ein vielschichtiges Unternehmen mit fast 200 Mitarbeitenden. Die Tatsache, dass fast alle Mitglieder im Aufsichtsrat 2021 neu waren, hat geholfen, da auch andere viele Fragen hatten. Am Anfang war es etwas besonders, eine Frau in diesem Gremium zu sehen, aber insgesamt hat die vielfältige Zusammensetzung zu neuen Perspektiven und einer positiven Veränderung geführt. Seitdem haben wir eine kompetente Geschäftsführerin und auch eine Vize-Präsidentin im SV Werder Bremen - ich bin also nicht mehr allein.
Von der Politik in den Aufsichtsrat: Welche Skills, die Du in der Vergangenheit erlernt hast, sind jetzt unendlich wertvoll?
Die Kompetenzen aus meiner politischen Laufbahn sind im Aufsichtsrat sehr wertvoll. Besonders wichtig ist meine Fähigkeit, mich schnell in komplexe Sachverhalte einzuarbeiten und die richtigen Fragen zu stellen. In Krisensituationen wie dem Trainerwechsel wegen eines gefälschten Impfpasses ist eine lösungsorientierte Herangehensweise entscheidend. Ebenso hilft mir meine Erfahrung im Umgang mit der Presse, denn jeder Schritt wird in der Bundesliga wie in der Politik von der Öffentlichkeit begleitet. Auch die Fähigkeit, mit Emotionen umzugehen und in schwierigen Momenten die Ruhe zu bewahren, ist für meine Arbeit im Aufsichtsrat entscheidend. Insgesamt tragen diese Fähigkeiten wesentlich dazu bei, dass ich meine Rolle effektiv ausfüllen kann.
Wie hat sich als Aufsichtsrätin Deine Beziehung zum Fußball verändert?
Als Aufsichtsrätin hat sich mein Blick auf den Fußball grundlegend verändert. Früher war ich ein begeisterter Fan, der gerne ins Stadion ging und die Spiele genoss. Aber als Aufsichtsratsmitglied habe ich eine ganz neue Perspektive gewonnen.
Zum einen habe ich viel über das Spiel selbst gelernt. Ich schaue mir die Spiele jetzt viel konzentrierter an und verstehe die taktischen und strategischen Entscheidungen immer besser. Früher habe ich einfach die Unterhaltung genossen, jetzt analysiere ich, wie Spielideen umgesetzt und die Pläne der Trainer verfolgt werden.
Zweitens habe ich einen tiefen Einblick in die finanziellen und organisatorischen Aspekte bekommen. Ich weiß jetzt, wie viele Menschen mit Leidenschaft im Hintergrund arbeiten, sei es im Ticketing, in der Öffentlichkeitsarbeit oder im Sicherheitsbereich. Das war mir vorher kaum bewusst. Die finanzielle Seite des Fußballs ist viel komplexer und wichtiger, als ich vorher gedacht habe. Der wirtschaftliche Druck, erfolgreich zu sein, ist enorm. Bei großen Turnieren wie der Europameisterschaft spielen die Spieler nicht nur um den Titel, sondern auch um mögliche Transfers zu anderen Vereinen. Das Transfergeschäft erinnerte mich an modernen Menschenhandel, denn Spieler sind das Kapital eines Vereins. Besonders deutlich wurde mir das, als ich die Auswirkungen von Spielertransfers und Verletzungen sah. Wenn ein Schlüsselspieler ausfällt, hat das weitreichende Folgen. Diese Realität des Fußballs war mir als Fan nicht so bewusst.
Welche Entwicklungen hin zur Gleichstellung im Fußball, sowohl für die Athlet*innen als auch für alle im Hintergrund nimmst Du als besonders dringend war?
Die dringendsten Entwicklungen für die Gleichstellung im Sport sehe ich in zwei Bereichen: der Förderung des Frauenfußballs und der Nachwuchsarbeit. Der Frauenfußball in Deutschland hat ein enormes Potenzial, sowohl wirtschaftlich als auch in der Popularität, das noch nicht voll ausgeschöpft ist. Es ist wichtig, die Entwicklung des Frauenfußballs weiter zu fördern, indem mehr Spiele in großen Stadien ausgetragen werden und in die Öffentlichkeitsarbeit investiert wird. Der Erfolg von Frauenfußballspielen, wie die Spiele von Werder Bremen im Weserstadion zeigt, dass ein wachsendes Interesse und steigende Zuschauer:innenzahlen möglich sind. Das stärkt das Selbstbewusstsein der Spielerinnen und zieht Investoren an.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Nachwuchsförderung. Derzeit ist die Nachwuchsarbeit in Deutschland stark auf Jungen ausgerichtet, während Mädchen oft nicht die gleiche Unterstützung und Trainingsmöglichkeiten erhalten. Es müssen dringend Systeme und Strukturen entwickelt werden, die auch Mädchen eine professionelle Ausbildung ermöglichen. Dazu gehören spezielle Ausbildungsprogramme, geeignete Einrichtungen und die Integration in bestehende Nachwuchsstrukturen. Langfristig sollte die Professionalisierung des Frauenfußballs gefördert werden, um den Spielerinnen bessere Karriereperspektiven zu bieten und das Potenzial von Transfersummen und Sponsoring besser auszuschöpfen.
Diese Maßnahmen tragen langfristig dazu bei, dass Frauen im Sport nicht nur als Sportlerinnen, sondern auch in Management- und Trainerpositionen stärker vertreten sind.
Vom lokalen Sportverein bis hin zur politischen Ortsgruppe: Was glaubst Du, wie man junge Menschen wieder für lokales Engagement begeistern kann?
Um junge Menschen wieder für lokales Engagement zu begeistern, sind einige wesentliche Punkte entscheidend. Erstens müssen die Strukturen, wie bereits beschrieben, zugänglich und attraktiv sein. Zweitens ist es wichtig, junge Menschen zu ermutigen, ihren eigenen Weg zu gehen und ihre Interessen zu verfolgen, auch wenn sie wenig Unterstützung aus ihrem direkten Umfeld erhalten. Obwohl politisches Engagement oft wenig öffentliche Unterstützung erfährt, sollten junge Menschen dennoch ermutigt werden, sich zu engagieren, da es immer Strukturen und Personen gibt, die sie unterstützen. Leidenschaft und Ausdauer spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. Junge Menschen sollten verstehen, dass Engagement Anpassung erfordert und sie in die Lage versetzt, aktiv an Veränderungen mitzuwirken. Schließlich sollten sie ermutigt werden, ihren Enthusiasmus und ihre Interessen zum Ausdruck zu bringen, Herausforderungen anzunehmen und nicht aufzugeben, wenn es schwierig wird. Echtes Engagement entsteht aus dem Wunsch, Dinge zu verändern und voranzubringen, nicht aus einer reinen Anspruchshaltung.
Vielen Dank an Ulrike Hiller für ihre Zeit, ihr Vertrauen und den Einblick in ihre Arbeit und hinter die Kulissen des Fußballs und der Politik.